Jedes Dorf
unserer Heimat hat nach wie vor einen
historischen Ortskern. Hier begann alles,
hier befindet sich die ursprüngliche
Wohnlage mit einer jahrhundertelangen
Geschichte. Manche Häuser sind in
geradezu abenteuerlichem Baustil
ineinander verschachtelt. Nicht selten
kam (kommt) es vor, daß zwei Wohnhäuser
nur eine gemeinsame Giebelwand hatten.
Viele dieser urigen Bauwerke sind heute
entweder restauriert, umgebaut oder sogar
abgerissen und neu aufgebaut worden. Eine
besondere Bausubstanz präsentieren jene
Häuser, bei denen man das Fachwerk
freigelegt und die symmetrisch
verzweigten Balken rötlich-braun
gestrichen hat. Die Straßen und Gassen
wurden seinerzeit so angelegt, daß ein
Pferde- oder Kuhgespann bequem hindurch
fahren konnte. An ein Auto hätte kein
noch so kühner Optimist auch nur zu
denken gewagt - es gab nämlich keine.
Durch einen solchen engen und ineinander
verwobenen Ortsteil verläuft in einem
kurzen Streckenabschnitt fast
schnurgerade - die Bremmer Keh-Gaaß.
Nun, die offizielle Straßenbezeichnung
lautete zwar Oberstraße,
doch daran hielt sich kein Mensch.
Generationen von Dorfbewohnern war die
gewachsene dörfliche und mundartliche
Bezeichnung recht und billig, sie deutete
darauf hin, daß hier im letzten und
vorletzten Jahrhundert mehrere Familien
ansässig waren, die im stolzen Besitz
einer Kuh waren. Das war durchaus nicht
selbstverständlich, viele im Dorf
konnten sich wie überall im Land -
höchstenfalls eine oder zwei Ziegen
halten. Aus jener Zeit stammt wohl auch
der Ausspruch: Die Ziege ist die
Kuh des armen Mannes! - Wer eine
Kuh als Milchquelle besaß,
konnte sich durchaus zu den
Privilegierten zählen.
Entschuldigung, mein Herr, wo
ist hier eigentlich die Küh-Gasse?,
fragte ein neugieriger Tourist mit
verschmitztem Gesichtsausdruck.
Also, begann der so
überaus freundlich angesprochene
Einheimische zunächst leicht stockend,
dann jedoch frei weg von der Leber zu
erklären: Also, passen Se
mal off, die KehGaaß.. Dann besann
er sich, daß er es mit einem Fremden zu
tun hatte und fuhr in fast lupenreinem
Hochdeutsch fort: Ja, die Kuh-Gasse
verläuft parallel zur Mosel oder, wenn
man so will, zur B49, sie beginnt
südlich in jenem Ortsteil dort drüben,
der erst nach dem Kriege, als es den
Leuten besser ging, entstanden ist und
endet nördlich an der schräg bergauf
verlaufenden Brunnenstraße im
historischen Ortskern, von Osten gesehen
ist es die zweite Querstraße, wenn man
die Moselstraße passiert hat! -
Sprachs und ging seiner Wege. Das
war die längste Rede, die er seit langem
gehalten hatte.
|
|
Vor etwa 30
Jahren wurde im Dorf immer häufiger die
Frage diskutiert, ob die alte
Straßenbezeichnung
Oberstraße noch treffend,
noch zeitgemäß sei, weil einmal eine
weitere, höher gelegene Straße mit
Neubaugebiet hinzu gekommen sei. Und zum
anderen bestand die ernste Absicht,
endlich der Qualitäts- und Renomier-Weinlage
Calmont die Ehre zu erweisen
und sie namentlich im Ort selbst zu
etablieren. Kurz und gut. Seitdem heißt
die Oberstraße alias
Keh-Gaaß ganz züchtig und
fast sogar ein bisschen vornehm
Calmontstraße. Die Alten
im Dorf halten sich nicht daran, für sie
heißt es nach wie vor - und durchaus
zünftig Keh-Gaaß, und das,
obwohl seit Jahr und Tag kein
Wiederkäuer mehr im Stall steht. - Und
die Jungen? - Na ja. Die Jungen haben
sich, so scheint es, auf die neuzeitliche
Version festgelegt. Denn weder die 11-jährige
Verena noch der 14-jährige Kilian und
sein Bruder Max wussten mit der
traditionellen Straßenbezeichnung etwas
anzufangen.
In der Mitte der neunziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts wurde die Straße im
Zuge der Dorferneuerung sowohl mit
neuzeitlichen als auch althergebrachten
Pflastersteinen kombiniert völlig neu
gestaltet. Die Anwohner selbst sorgen
für dekorativen Blumenschmuck, der von
den zahlreichen Gästen im Dorf immer
wieder bewundert wird. Und: Ob nun
Keh-Gaaß,
Oberstraße oder
Calmontstraße, spielt
überhaupt keine Geige.
Hauptsache ist: Die Lebens- und
Wohnqualität lässt hier nichts zu
wünschen übrig.
|